Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

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The_desperate_one
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Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by The_desperate_one » Tue 15. Jan 2019, 14:14

Sehr geehrte Mitforisten,

angesichts des nicht schwindenden Problems der Prokrastination versuche ich es mal mit umgekehrter Selbstpsychologie: Ich erkläre hier, warum ich meine Prokrastination nicht heilen kann und sie auch von außen unheilbar sein könnte.

Zunächst etwas philosophischer Background: Nach einer naturwissenschaftlich-philosophischen Richtung - d.h. begründet, aber nicht letztgültig bewiesen - ist der "Freie Wille" jedes Menschen nur eine Illusion. Ich ziehe zu dieser Ansicht die Begründung der Quantentheoretikerin Sabine Hossenfelder heran, nach der Naturgesetze inklusive der Chaostheorie entweder deterministisch sind*** oder aber unsteuerbaren, echten Zufall beinhalten (Quantentheorie). Dementsprechend ist alles im Universum inklusive menschlicher Entscheidungen [im Makroskopischen hauptsächlich] Produkt vergangener, ursprünglich unbelebter**** Einflüsse sowie [im Makroskopischen zu einem unglaublich winzigen Anteil, Belege der Winzigkeit liefert die Statistische Physik] unsteuerbaren, echten Zufalls. Oder mit anderen Worten: Meine Umwelt und meine Gene und Körperchemie bestimmen das, was ich denke oder tue. Dies entspricht dem Fatalismus aus der Antike. Eventuell* ist das kein nützliches Selbst- oder Weltbild, aber es ist nach meiner Überzeugung wahr**. Genauso gut könnte der Titel natürlich lauten "Warum Deine Prokrastination definitiv heilbar ist (nur evtl.***** nicht durch Dich selbst)" oder noch anders, aber der gewählte Titel provoziert nach meiner Absicht mehr zur Diskussion :mrgreen:. Und wer weiß, vielleicht kommt entgegen meiner ersten Befürchtung ja etwas Gutes aus dieser philosophischen Betrachtung heraus.

Viele Grüße, Jan

*** das heißt, vollständig aus der Vergangenheit vorherbestimmt, wie eine von zuvor zahlreichen anderen Kugeln gestoßene Kugel rollt
**** Das Belebte und das Unbelebte unterscheiden sich demnach ohnehin nicht fundamental: Ein einfaches Bakterium verhält sich so vorhersehbar wie ein Roboter, Ähnliches gilt noch für den Regenwurm und nach dieser Weltanschauung natürlich auch für den deterministischen Menschen.
* bei dem Nützlichkeitsurteil bin ich mir nicht so sicher wie manch anderer. Man kann es z.B. als Wert sehen, dass Menschen unterschiedlich sind und denken
** wobei unser unfreier Wille natürlich als ermergentes Phänomen auf jeden Fall existiert - nur können wir selbstverständlich nicht wollen, was wir wollen. Oder anders gesagt: Ein Computeralgorithmus, der sowohl rein intern als auch auf Sensoren oder anderweitigen Input (auch thermischen Zufall) hin programmierte Entscheidungen trifft, hat genausoviel freien Willen wie ein Tier oder ein Mensch. Nur haben Computer bisher noch kein Selbstbild oder Ich-Empfinden, höhere Tiere schon in unterschiedlichem Maß.
***** Das "könnte" und "evtl." rührt natürlich hauptsächlich von meiner unvollständigen Information über die Welt, nicht daher dass makroskopischer Zufall inhärent eine große Rolle spielen würde

pro-cras
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by pro-cras » Tue 15. Jan 2019, 22:04

Lieber Jan,

als ich anfing, deinen Post zu lesen, dachte ich zuerst, dass du uns verwirren wolltest, in so einer Art sokratischem Verwirrspiel, an dessen Ende bei uns ein entwaffnetes „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ stehen würde, das dann Raum böte für deine Klarstellungen. Nach deinem Rückzug allerdings auf die Zitadelle eigener unvollständiger Informationen bist du allerdings wieder bei uns Sterblichen angelangt, die wir uns abfinden müssen mit einem leider immer noch größtmöglichen Defizit an Wissen und Information ;)

Lass mich trotz dessen dies klarstellen:

Wenn es so wäre, dass in Sachen Prokrastination der Wille, sei er frei, determiniert oder überhaupt nicht existent, eine Rolle spielte, dann wäre deine Entscheidung für den Determinismus (dessen Wahrheitsgehalt weder erwiesen noch widerlegt ist) ebenso wenig begründbar wie anzuzweifeln – also im Prinzip frei wählbar. „Entscheidend“ wäre dann (wie Helmut Kohl es ausdrückte) das „was hinten dabei herauskommt“. Denn egal was und wie du entscheidest, du wirst immer Recht behalten!

Wie gesagt, wenn der Wille überhaupt eine Rolle spielte.

Aber genau das ist nicht der Fall – und mit dieser gedanklichen Ungenauigkeit (oder sollte ich sagen: mit diesem Taschenspielertrick) wäre es dir tatsächlich fast gelungen, uns zu verwirren. Wie der „Zauberer“, der im Zaubermoment seine Zuschauer unaufmerksam macht, streust du an der entscheidenden Stelle das Wort „selbstverständlich“ ein, so dass wir glauben sollen, wir könnten tatsächlich nicht "wollen, was wir wollen".

In der Tat ist ein Teil des emotio-kognitiven Behandlungsansatzes der Prokrastinationstherapie das Sich-Vertiefen in das Koan: „Du musst allerdings wollen, was du willst“. Die Lösung liegt nicht in der Diskussion um freien oder unfreien oder gar keinen Willen, sondern in der Klärung der Begrifflichkeiten Wollen, Wille, Volition, Absicht. In ihr beantwortet sich gleichzeitig die Frage, warum du prokrastinierst, und ob du es weiterhin tust.

Wenn wir im Willen die Erklärung für Prokrastination, und in der Erklärung die „Heilung“ erwarteten, dann würden wir die Prokrastination falsch einschätzen und ihr mehr Macht geben, als ihr zusteht. Wenn wir stattdessen die Prokrastination als ein Reaktionsmuster erkennen, das dem Nicht-Handeln eine größeres Sicherheits- oder Befriedigungspotenzial zuschreibt als dem Handeln, haben habe wir uns bereits auf einer Aktionseben gefunden, auf der wir weder makroskopischen Mittelwerte noch subatomare Quantenebenen in Betracht nehmen müssen, sondern uns als Individuum erkennen und weiterentwickeln können. Ob ein dann ein Aufschieben für nützlich anzusehen ist oder nicht, entscheidet allenfalls als Eremit alleine. Ansonsten werden wie dies noch mit einigen anderen persönlichen, sozialen, ökonomischen oder sonstigen Parametern abgleichen müssen – dies allerdings, ob wir wollen oder nicht.

Herzliche Grüße
pro-cras

The_desperate_one
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by The_desperate_one » Wed 16. Jan 2019, 11:54

Hallo pro-cras,

ganz sicher war nicht meine Absicht zu verwirren. Allenfalls gelingt es mir nicht, meine Ansicht klar genug zu formulieren.

Und "Ich weiß, daß ich nichts weiß" wollte ich auch zumindest nicht wörtlich ausdrücken. Ich wollte sagen, dass mein und unser Wissen notwendig unvollständig ist, dass nirgends letzte Sicherheit erreicht werden kann. Aber das sollte nicht so verstanden sein, dass wir etwa kaum Wissen hätten und damit über den Freien Willen nur sehr wacklige oder vage Aussagen treffen könnten.

Und dass das Fehlen Freien Willens nicht zu 100% bewiesen werden kann, heißt nicht, dass es nicht sehr plausibel wäre (z.B. so plausibel wie dass es Evolution oder Einsteins relativistische Effekte gibt). Es gibt keinen einzigen naturwissenschaftlichen Befund, der für Freien Willen im oben dargelegten Sinn spricht (also nicht-deterministisch nicht-probabilistisch, womit jede unserer Handlungen de facto berechenbar und bereits festgelegt sind bzw. zu einem ungemein winzigen Teil durch einen unbeeinflussbaren echt-zufälligen Würfelwurf bestimmt nach der Quantentheorie.); alle Naturgesetze die bekannt sind, sprechen allerdings gegen einen Freien Willen. Im Prinzip betrachte ich den Freien Willen als widerlegt. Ich denke ich wollte es in meinem manchmal starken Impuls nach Harmonie im sozialen Kontakt (da manche Menschen auf so ein Thema empfindlich reagieren nach meiner Erfahrung***) nur nicht so hart ausdrücken, was ich hiermit im Sinne der Klarstellung nachhole. Im Übrigen gilt in der Naturwissenschaft, dass Ideen, die sich nicht aus bereits akzeptierten Naturgesetzen ableiten, von demjenigen bewiesen werden müssen, der sie vertritt. Die Wissenschaftstheorie vertritt die Auffassung das grundsätzlich überhaupt gar nichts widerlegt werden kann (z.B. die Existenz des Weihnachtsmannes oder des Osterhasen oder die als Beispiel berühmte Teekanne Russells** oder die Existenz von Hogwarts, oder Hitler überlebte in seiner Antarktisbasis). Daher muss derjenige, der ein Postulat vertritt, Belege für seine Auffassung herbeibringen, andernfalls wird die Auffassung verworfen (Ockhams Rasiermesser). Für den Freien Willen im obigen Sinne wurde kein Beleg erbracht - Lebewesen gelten damit zumindest in meinem wissenschaftlichen Umfeld als Maschinen (je höher das Lebewesen, umso komplizierter die Maschine). Ich weiß, dass Geisteswissenschaftler und Psychologen da teils widersprechen*, deshalb spreche ich von der Naturwissenschaft.

*aber deren Forschungsgegenstand umfasst ja auch keine Naturgesetze, also bin ich skeptisch gegenüber der Basis ihrer Beurteilung

**Wikipedia schreibt dazu: "[Bertrand Russells (1872–1970) Teekanne] sollte veranschaulichen, dass die Beweislast einer Behauptung bei dem liegt, der sie aufstellt, und keinesfalls eine Widerlegungspflicht bei anderen besteht. [...] Russell beschrieb dort eine hypothetische Teekanne, die im Weltraum zwischen Erde und Mars um die Sonne kreise und so klein sei, dass sie mit Teleskopen nicht gefunden werden könne. Falls er ohne weitere Beweise behaupten würde, dass eine solche Teekanne existiere, könne man nicht erwarten, dass ihm jemand glaubt, bloß weil es unmöglich sei, das Gegenteil zu beweisen."

***Im ersten Moment empfinden viele so eine Ansicht als trostlos oder uninspirierend, aber das würde die Sache ja nicht weniger wahr machen. Außerdem kann man bestimmt eine Sichtweise/Einstellung entwickeln, das Fehlen Freien Willens als trostspendend und inspirierend zu werten. Letztlich leben wir mit der Illusion eines Freien Willens meistens recht gut, da macht es vielleicht nicht unbedingt etwas aus ob man die Illusion als solche erkannt kannt. Ich hatte mich auch gefragt, ob meine Weltanschauung meine Depression verschlimmert hatte, aber auf meiner Station waren die Weltanschauungen der anderen Patienten sehr bunt - ich konnte da keinen Zusammenhang erkennen.

Von dieser akademischen Frage abstrahiert ist das jetzt nicht unbedingt hilfreich für die Behandlung der Prokrastination oder von nur Irgendetwas. Vielleicht aber spielt ein solches Weltbild in die Krankheitsproblematik irgendwie mit rein oder im Rahmen dieses Weltbildes ließe sich eine Möglichkeit finden, Prokrastination besser zu bekämpfen. Ich kann mir beispielsweise vorstellen dass ein Christ durch intensives Bibelstudium den "Drive" bekommen kann sein Leben geordneter und besser aufzustellen. Vielleicht ist das auch von anderen weltanschaulichen Startpunkten aus möglich. Im Moment ist es aber (noch) so, dass ich z.B. mit „Du musst allerdings wollen, was du willst“ gar nichts anfangen kann. Ich kann eine erste Ebene ("Ich will etwas") bei mir im klar-geistigen Bewusstsein erkennen und dass ich meinen Willen außer bei kurzfristigen Aufgaben nicht umsetze, weil eine eher unbewusste, animalische Impulsivität ("Der Affe am Steuer"), die kurzfristige Belohnung anstrebt (Entspannung, Süßigkeiten, Ablenkung, sofortige Belohnung, Abwechslung) in mir meistens gewinnt. Außerdem vermute ich bei mir persönlich in manchen Lebensaspekten fehlenden Mut (z.B. meinen Job zu kündigen) und in real-life sozialen Begegnungen teils Konfliktscheue, wobei Ersteres aber auch vernunftbezogene Gründe hat: Ich habe bisher noch in jedem Job prokrastiniert, und nur meine Prokrastination macht nach einer gewissen Zeit die aufgestaute Arbeit, damit den Job zur Qual.

Du sagst selbst, dass die "Klärung der Begrifflichkeiten Wollen, Wille, Volition, Absicht" die Frage beantworte, "warum du prokrastinierst, und ob du es weiterhin tust." Allerdings scheint Dein letzter Absatz diese Ansicht wieder zu relativieren. Also kurz die Frage: Verfolgen wir Deinen vorletzten Absatz (Klärung von Wollen/Absicht) oder lassen wir das Thema lieber ruhen gemäß Deines letzten Absatzes?

Viele Grüße,
Jan

pro-cras
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by pro-cras » Wed 16. Jan 2019, 18:55

Lieber Jan, liebe Mitforisten,

mit Bedauern sehe ich, dass der „letzte Satz“ orthographisch und satzbautechnisch komplett verwackelt ist. Verständlicher wird er vor dem Hintergrund der von dir, Jan, angesprochenen „Nützlichkeit“ eines (möglicherweise fatalen) Weltbildes. Ob du das für dich annimmst oder nicht – es bleibt immer an dir hängen, deinen Eigenanteil am Geschick der anderen um dich herum auch als Prokrastinator (persönlich, sozial, ökonomisch) zu erkennen oder zu verneinen. Nützlich ist die (nicht mehr kontrollierbare) Prokrastination sicherlich nicht.

Im Übrigen bin ich à la longue kein guter Sparringspartner im Schlagabtausch philosophischer Positionen und wissenstheoretischer Standorte. Für mich gilt z.B. die Beweiskraft einer therapeutischen Methodik mit dem Eintreten von nachhaltiger, subjektiv erlebter und objektiv erkennbarer „Heilung“ als erbracht, auch wenn ich nicht genau weiß, wie meine Klientin das letztlich hingekriegt hat. Ob ihr das wegen oder trotz ihres freien Willens gelingt, ist nicht Gegenstand des Behandlungsvertrags, und auch ansonsten irrelevant, denn
1.) meine Meinung darüber wird von der meiner Gegenüber abweichen
2.) der Wille ist an dem therapeutischen Geschehen allenfalls nachrangig beteiligt. Wollen, Volition und Absicht laufen ihm da einfach den Rang ab
3.) das Ziel ist nicht die allgemeine Weltformel des freien Willens, sondern die machhaltige Überwindung einer ganz individuellen Tendenz zum unkontrollierten Aufschieben
4.) der Weg dahin führt nicht vorrangig über eine basistheoretische Terrainaufbereitung aller möglichen Gründe, sondern stringent in eine lösungsorientierte, personen- und situationenbezogene Arbeit
5.) Lösungsorientierte Arbeit (solution focused therapy SFT nach Steve Shazer) sucht und formuliert die ad hoc aufscheinenden Lösungsmöglichkeiten, anstatt sich mit dem Ergründen des Problems auseinanderzusetzen. Es werden Strategien aus dem Ressourcen-Repertoire des Klienten geformt.
6.) Lösungen entspringen nicht meinem Kopf, sondern dem der Gegenüber
7.) Das Erscheinen oder Nicht-Erscheinen von Lösungen ist nicht eine Frage des Willens
8.) Lösungen sind der Beginn von etwas Neuen, nicht die Verneinung des Problems
9.) Lösungen sind in diesem Sinne neue Handlungsvarianten (etwa: Tun statt Nicht-Tun).

Das Durchdeklinieren dessen, was dein Wollen, deine Volution oder deine Absicht ist, stellt die Diskussion um deine Prokrastination wieder vom Kopf auf die Füße, weswegen ich sie (im Sinne einer Prokrastinationsbekämpfung) für nützlich halte.

Immer wieder übrigens begegnet mir dabei der Einwand der Depression: etwa, dass eine negative, zur Depression neigende Grundhaltung der Prokrastination Vorschub leiste. Das mag es so geben, und das wäre im gegebenen Falle eine andere und anders zu behandelnde „Baustelle“. Ich erlebe die Welt allerdings genau umgekehrt – als Ort, der durch fortwährend und exzessiv praktizierte Prokrastination, durch fahrlässiges oder auch mutwilliges Verzögern von wichtigen Entscheidungen traurig, enttäuscht oder depressiv machen kann.
Herzliche Grüße
pro-cras

pro-cras
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by pro-cras » Thu 17. Jan 2019, 11:44

Lieber Jan, liebe Mitforisten,
lass mich noch kurz etwas zu der Behauptung hinzufügen, man müsse „allerdings wollen, was man will“. Die (nur scheinbare) Unverdaulichkeit dieses Satzes rührt von einer gewissen Ungenauigkeit in der deutschen Sprache, die sich manchmal auch on einer Ungenauigkeit des Denkens widerspiegelt. Wir habe erstaunlicherweise ein gemeinsames Wort für das, was wir beabsichtigend wollen, und was wir entschieden wollen. Nun ist es nicht dasselbe, ob ich Möbel kaufen will – was sich durchaus verschieben oder in ein Auto umwandeln ließe – oder ob ich dem Eheversprechen ein entschlossenes „Ja, ich will“ hinzufüge (in der Überzeugung, dass nur der Tod das noch ändern könnte).

Es bleibt die Aufforderung, zu prüfen, ob ich das, was ich „will“, d.h. ob das, was ich mir einrede, zu wollen (z.B. in der Erstellung einer To-Do-Liste), sich tatsächlich in Einklang zu bringen ist mit dem, was mir im Rahmen aller auf mich einwirkenden Beeinflussungen als Wille möglich ist. Ich kann dabei durchaus diskutieren, ob dieser Wille unfrei ist (in dem Sinne, dass der Mensch ein eher fremd- als selbstbestimmtes Wesen sei). Für mich ist das allerdings nicht so wesentlich, da ich meine, dass der Mensch beides bzw. vieles ist. Definitorische Grenzen werden im Psychischen allenfalls gezogen, um ein wenig Ordnung zu schaffen in einer sonst verwirrenden Unübersichtlichkeit.

Diese Unübersichtlichkeit kann durchaus dazu führen, dass Menschen ihren Platz in dieser Welt (und auch ihr Tun und seine Notwendigkeit) nicht festlegen können. Eine Orientierungsverlust, der vielleicht mir Darwins dramatischer Botschaft begann, dass der Mensch nur ein Zufallsprodukt der Evolution sei, und der Freud noch eins draufsetzte, indem er das Tagesbewusstsein jedes Menschen als Ergebnis eines familiären Umweltprozesses aus der Vergangenheit beschrieb. In der Psychoanalyse hat er die Entmachtung des Menschen auf die Spitze getrieben, die spätestens mit Kopernikus‘ Dezentrierung der Erde im Sonnensystem eingeleitet wurde. Seither versucht der Mensch, seine Vergangenheit mit den Mitteln der Therapie aufzuarbeiten, d.h. de facto sie neu zu interpretieren.

Dieser retro- bzw. introvertierten Betrachtungsweise versuchen moderne Therapieansätze wie die in meinem letzten Post beschriebene Lösungsorientierte Therapie etwas entgegen zu setzen, das dem Handeln, bzw. dem Wollen als auslösender Teil des Handelns eine neue Chance gibt. Und das dem Ich seinen ihm gehörenden aktiven Teil, eine Bedeutung zuweist. „Wille“ bleibt dann lediglich ein anderes Wort für ein Ereignis, auf das eine Vielzahl von Faktoren hinwirkt.
Herzliche Grüße
pro-cras

The_desperate_one
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by The_desperate_one » Thu 17. Jan 2019, 13:11

Hallo pro-cras,

danke für Deine beiden jüngsten Posts, mit beiden kann ich wie bei den meisten Deiner Aussagen durchgehend viel anfangen. Ich antworte hier mal auf den zweiten Post, auch dem ersten stimme ich zu.
Erster Absatz: Mit eigenen Worten würde ich das so ausdrücken, dass es verschiedene Intensitäten des Wollens gibt, eher oberflächliches Wollen und tief verankertes Wollen mit unterschiedlicher innerer Verbindlichkeit.

Auch die These, dass unser Platz in der Welt heute vielleicht schwerer zu finden ist, was auch am gestiegenen Wissen (oder einfach mehr verfügbarer Zeit zum Grübeln) liegen kann, ist sehr bedenkenswert.

Bei Deinem letzten Abschnitt, dem Wille als Ereignis, überkommt mich das Gefühl dass Du meine Weltsicht durchaus teilst, wobei Du zudem noch wesentlich stärker auf Aspekte der Prokrastinationsbehandlung fixiert bleibst, was super ist!

Zufälligerweise stieß ich heute morgen im Hörbuch "Schluss mit dem ewigen Aufschieben" in Hörbuchkapitel 12 zudem auf eine Besprechung des (un)freien Willens im Zusammenhang mit Prokrastination. Es passt ungemein gut in diesen Thread, ich nahm mir vor zu versuchen davon etwas hierher zu transkribieren.

Viele Grüße, Jan

The_desperate_one
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by The_desperate_one » Sun 20. Jan 2019, 11:01

Es war doch das Nachfolger-Hörbuch "Entdecke das Glück des Handelns". Nun also die Transkription (gekürzt):

"Kapitel 12 - Sektion 'Wollen und Willen'
Die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung zeigen, dass uns die eigentlichen Antriebe unseres Handelns nicht zugänglich sind. Die Weichen werden tief in unserem Stammhirn gestellt, im limbischen System. Diese Regionen sind durch Vorsatzbildungen nicht beeinflussbar. Die beiden subjektiv wahrgenommenen Bestandteile des scheinbar freien Willens sind Illusionen. Das Gefühl, etwas frei zu wollen, entsteht durch eine nachträgliche, bewusste Aneignung von Handlungsmotivationen, die aus dem limbischen System stammen. [...] unser Stirnhirn im Zusammenwirken mit dem limbisch-emotionalen System [lässt] Wünsche und Absichten bewusst werden, die schon einige interne Zensuren, von denen wir gar nichts wissen, passiert haben. [...] Im Stirnhirn werden diese Antriebe mit der wahrgenommenen, äußeren Realität verglichen. Konflikte zwischen Neigung und Pflicht, Gefühlen und Gedanken, entsprechen einem mehrfachen Durchlaufen der limbischen Schleifen. Setzen sich Impulse durch [...], dann kommt ein erneuter Abgleich [...] mit dem erwarteten Belohnungswert der Handlung hinzu. [...] Wenn der erwartete Belohnungswert gering ist, wird die Sache nicht angegangen, sondern zurückverwiesen in Gedankenschleifen - da grübeln wir -, in Konfliktzonen - Zweifeln und Zaudern -, aufgeschoben oder gänzlich aufgegeben. Fällt die Prüfung jedoch zu Gunsten der Handlung aus, so werden Zentren aktiviert, in denen die Ausführungsprogramme liegen. In tiefer liegenden Gehirnteilen werden gleichzeitig konkurrierende Aktionsschemata gehemmt. [...] Automatisierte, also gut eingeübte Programme, haben es leichter aktiviert zu werden und zur Geltung zu kommen. [...] Häufige Wiederholung und positive Emotionen erhöhen die Chance, Programme im limbischen System zu platzieren. [...]" - Zitat Ende

In dieser Sektion wird also auf mögliche Ansatzpunkte gegen Prokrastination eingegangen, nämlich die Wiederholung eigener Handlungen und die Verknüpfung der Handlungen mit positiven Emotionen, um diese in der eigentlich wirksamen Gehirnebene der Willensbildung zu verankern.

Viele Grüße,
Jan

pro-cras
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Re: Warum (D/m)eine Prokrastination unheilbar sein könnte

Post by pro-cras » Thu 24. Jan 2019, 11:34

Lieber Jan

Trotz angekündigter Schreib-Abstinenz will ich dir auf deinen Post doch noch antworten (Deine Transskriptionsmühe ist es wert!):

1. Die „Erkenntnisse der modernen Hirnforschung“ bleiben so lange verlässlich, wie sie nicht von anderen abgelöst wurden. Eine simple Ursache-Wirkung-Korrelat ist in einer systemisch wirkenden Umgebung (zu der unser Leben und auch unser Gehirn zählen) nicht sinnvoll.
2. Die Biologie des Gehirns wird im inzwischen in deutlich mehr entwicklungsgeschichtliche Bereiche differenziert, die deutlich enger miteinander kommunizieren. Der Begriff „Stammhirn“ ist in der dargestellten Form nicht länger haltbar.
3. Wir sollten nicht außer Acht lassen, dass in dem von dir geschilderten „mehrfachen Durchlaufen der limbischen Schleifen" der „erwartete Belohnungswert“ jedes Mal neu festgelegt wird/werden kann, sodass nach mehrmaligem „erfolgreichen“ Prokrastinieren dann doch irgendwann (wie auch immer neu motiviert oder „gewollt“) der bislang verhinderte Handlungsimpuls sich durchsetzen kann.
4. Ich insgesamt davor, in fatalistischer Ergebenheit das auf Emotionen spezialisierte limbische System als eine Art „Black Box“ zu verstehen, das in unergründlicher und unzugänglicher Weise unser Bewerten und Handeln steuert.
5. Der psychotherapeutischen Praxis stehen durchaus Instrumente zur Verfügung, die einen Zugriff auf den „Datenbestand“ der im Hintergrund wirksamen Strukturen erlauben, und zwar sowohl in Bezug auf deren Entstehung in der Vergangenheit als auch auf eine gewünschte Veränderung ihrer Wirkung in der Gegenwart bzw. für die Zukunft. Hier verweise u.a. ich auf die Stichworte Hypnose und EMDR.
6. Ob und auf welcher Ebene sich bestimmte Bewertungsmaßstäbe durchsetzen können, wird mit den verschiedenen Modellen wie der Bedürfnispyramide (die Maslow’sche ist da beileibe nicht die einzige) bildlich gemacht. Außerdem gibt es für jeden von uns so eine Art behaviorales, erzogenes bzw. kulturell erworbenes Bewertungs-„Grundrauschen“, das bestimmten Verhaltensmaximen eine Priorität verschafft – wenn erst einmal die Nebel der Verunsicherung durchquert sind (In einer anderen, ethisch/moralischen Form nennen wir das dann „Gewissen“).
7. Die vorgenannte „Verunsicherung“ erlebe ich vorrangig dort, wo der Selbstwert sich nicht ausreichend entwickeln durfte, wo also Folgsamkeit vor Eigenverantwortung gestellt wurde, und wo ein „Alles ist möglich“ den systemeigenen Kompass nachhaltig irritiert. An beidem lässt sich erfolgreich arbeiten.
Herzliche Grüße
pro-cras

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