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Die Lust des Aufschiebens

Posted: Sun 16. Dec 2018, 13:40
by pro-cras
Die Lust des Aufschiebens
Kürzlich las ich folgenden (wohl eher humoristisch gemeinten) Warnhinweis auf einer Zigarettenpackung: Das Gefühl „Ich brauche eine Zigarette“ kommt von der vorherigen Zigarette. Tatsächlich macht uns das Gehirn manchmal ein spezielles Lustgefühl vor, und so auch beim entspannenden Aufschieben.

Der Regisseur Christian Petzold erwähnt in seinem Interview mit der ZEIT (15.12.18) die früheren Rauchgewohnheiten und -Rituale - und könnte damit ohne weiteres auch das Aufschieben gemeint haben, indem er sagt:
„Rauchen war ein Grund, sich aus dem Strom der Arbeit, der Notwendigkeiten zu verabschieden … Die Zigarette in der Hand (oder das Problemprojekt in der Schublade ganz unten – d. Verf.) bedeutete: Ich mach nicht mehr mit. Die Zigarette war eine Pause, eine Lebenspause.“

Nein, ich will weder das Rauchen noch das Aufschieben schönreden. Wir alle wissen, „Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu", wie auch das Aufschieben. Und trotzdem existiert auch die Haltung: „Heute betrachtet man Raucher als Leute, die die Kontrolle über sich verloren haben: Als arme Schweine… Subproletariat.. Man kann doch zwei, drei Lebensjahre opfern, wenn man dafür die anderen Jahre ein bisschen auffüllt. Aber dieser Gedanke ist völlig verpönt.“

Durch Rauchen und seine erleichternden Momente kann man sterben, und mit Prokrastinieren kann man sich bis in eine totale Existenzgefährdung manövrieren. Und doch hat es für beide, den Raucher wie den Aufschieber, einen gewissen Charme: Aus den Zwängen und dem akuten Stress aussteigen und einen tiefen befreienden Atemzug zu nehmen, sich zurückzulehnen, und Pause zu machen.

Wenn Christian Petzold aus der Sicht des Regisseurs bedauert, dass mit der fortschreitenden Ächtung des Rauchens bestimmte etablierte und selbstredende Kommunikationsriten ersatzlos wegfallen, und ausdrucksstarke gestalterische Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen (z.B. Rauchattitüden als Zeichen von Coolness oder Rauchschwaden als Symbol für heftiges Nachdenken), so wird eine totale Aufschiebeabstinenz (wie etwa bei den AA von ihren Adepten gefordert) den Verdacht befördert, dass uns mit gelegentlichem Aufschieben dann und wann etwas ganz Wichtiges abhanden kommt.

Ich für meinen Teil habe das Gefühl, dass Aufschieben eine Kulturtechnik ist (weit mehr als eine Krankheit), die ihren Sinn hat, die uns hilft zu überleben, die allerdings bei missbräuchlicher und exzessiver Handhabung degenerieren und sich gegen den "Nutzer" wenden kann – wie jede Art von Genussmittel, denen sie bei genauem Hingucken wohl zuzurechnen ist. Vor-Weihnachtsstress mit Deadline 24./25.12 ist immer wieder die Nagelprobe dafür, wie man Aufschieben handhabt. Ich wünsche euch, dass es euch auf die angenehmste Weise gelingt!
Mit entsprechend vor/weihnachtlichen Grüßen euer

pro-cras