Vielgesichtiges Aufschieben

Beschreibung und Diskussion persönlicher Erfahrungsberichte
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pro-cras
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Vielgesichtiges Aufschieben

Post by pro-cras » Thu 30. Aug 2018, 16:42

Deskriptiv

In der Begegnung mit Prokrastination macht man die Beobachtung, dass Aufschieben von den Betroffenen ziemlich unterschiedlich beschrieben wird: gelegentlich als durchaus situationsangemessen und richtig, manchmal als unvermeidlich, entlastend, sogar verführerisch, und in ausgeprägteren Fällen auch als unkontrollierbar oder auch zerstörerisch. Die Grenzen sind dabei fließend dynamisch, eine Bewertung innerhalb der symptomatisch schillernden Phänomenologie deshalb nicht immer einfach: nötig, noch steuerbar, leider unvermeidbar, eigentlich immer eine Gefahr, oder gar eine Sucht?

Psychodynamisch

Andererseits zeigt sich aufschiebendes Verhalten auch als „dynamisch“ in der Summe seiner vielfältigen auslösenden und begleitenden psychischen Prozesse, die unter der Oberfläche der deskriptiven Ebene ablaufen. Nicht selten greifen „technische“ Ansätze zur Überwindung von Aufschiebetendenzen gar nicht oder zu kurz, weil starke psychisch begründeten Dynamiken nicht oder nicht ausreichend gewürdigt wurde. Hieraus folgen dann die Erfahrungen, dass ein schon überwunden geglaubtes Aufschiebeverhalten wieder Einzug hält – üblicherweise in einem dafür schon bekannten oder ähnlichen Thema.

Unbekannte Kommandogeber

Während die „technischen“ Mittel in der Hauptsache auf die Arbeits- und Projektorganisation, die Planung, das Zeitmanagement, auch in den Bereich der Aufgabenbeschreibung, der materiellen Ausstattung oder der fachlichen Eignung abzielen, dringen die psychodynamischen Ansätze weiter vor: Unbewusste, emotionale und kognitive Wahrnehmungen und Motivatoren können sich in die Bereitschaft und Fähigkeit zur planvollen Aufgabenerfüllung einmischen und sich, jenseits einer grundsätzlich positiven und aktionszugewandten Erledigungsabsicht, bremsend oder blockierend auswirken. Das können z.B. alte und nie hinterfragte Glaubenssätze sein, nicht gut verarbeitete frühe Erfahrungen oder unklare Befürchtungen, auch wenn sie nur mittelbar mit der fraglichen Thematik zu tun haben. Gefühle wie Scham, Angst oder Ekel können einem das lange schon aufgeschobene Aufräumen des Kellers dauerhaft verleiden, auch wenn diese Gefühle nicht notwendigerweise mit dieser Tätigkeit zu tun haben werden. Lust- oder Unlustgefühle sind oft an der Oberfläche nicht greifbar und nicht steuerbar, sie wollen an ihrer psychodynamischen Wurzel angefasst werden.

Wie sinnvoll sind Hilfen und Ratschläge?


Tatsächlich muss man sich in Bezug auf die „technische“ Begründung von Prokrastination die Frage stellen, ob ihre Annahme als selbständig wirkende Prokrastinations-Ursache überhaupt vertretbar ist. Dass sich nämlich so etwas wie Chaos in der Planung, unsauberes Zeitmanagement oder fehlende Ordnung über einen prokrastinationsrelevanten Zeitraum hinweg halten kann, erscheint für einen vernunftbegabten, motivierten und gesunden Menschen zunächst doch eher unlogisch. Auch eine logische, aufmunternde oder sogar drohende Erklärung bei einem aufkommenden Aufschiebeverhalten hat selten nachhaltigen Erfolg. Was also läuft falsch?

Menschen sind so (müssen es aber nicht bleiben)

Kein Mensch entspricht dem Idealbild als Krone der Schöpfung. Lebenswege, und zwar von frühester Jugend an, verlaufen durchaus auch chaotisch, defizitär, traumatisierend oder konfliktbehaftet. Menschen sind immer auch verletzlich, sensibel und auf Schutz, Selbstfürsorge oder Rückzug angewiesen. Defizite im Planungsvermögen, in der fehlerfreien Anwendung der Kulturtechniken, in Mut und Anstrengungsbereitschaft gehören daher durchaus zu uns und sind nicht einfach durch eine Weck- oder Kontroll-App abzustellen, oder durch ein hinzugefügtes Planungsinstrument wegzudrücken. Wir müssen sie aber auch nicht schicksalsergeben ein Leben lang mit uns herumschleppen. Für einen fürsorglichen Umgang mit sich selbst ist es beim Auftreten von Aufschiebetendenzen unverzichtbar, über sich, das fragliche Projekt und dessen Auftraggeber die Fragen zu genau den Themen zu stellen, die in dem aufkommenden Zögern transportiert werden.

Guter Rat ist teuer

Falsch, ein Rat ist gut, wenn er hilft, die richtigen Fragen zu stellen und zu weiterführenden Antworten zu finden. Der anerkennt, dass
Prokrastination nicht die "Krankheit", die "Störung" ist, sondern das Alarmsignal, das Symptom, das es vorrangig nicht zu behandeln, sondern zu befragen gilt.

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