Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Beschreibung und Diskussion persönlicher Erfahrungsberichte
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JavaBohne
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Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by JavaBohne » Sat 13. Oct 2018, 16:24

Hallo Foristen,

Auf focus.de habe ich von der promovierten Psychologin und Autorin Dr. Ilona Buergel einen aus meiner Sicht hochinteressanten Artikel mit dem Thema: "Kontrollverlust oder Befreiung? Ich habe eine Woche auf To-Do-Listen verzichtet" gelesen.

Hier ist der Link: https://www.focus.de/gesundheit/experte ... 20460.html

Sie beschreibt darin, wie sie anstatt To-Do-Listen zu schreiben eine Woche ohne auskam, was sie dabei fuehlte und wie sie sich im Anschluss dazu stellte.

Ich habe diesen Thread im Forum "Erfahrungsberichte" gepostet, weil ich nicht nur diesen Artikel vorstellen moechte, sondern, weil ich gerne die Diskussion anregen moechte, was wir als Prokrastinatoren von To-Do-Listen erwarten, wie sie uns helfen und ob sie uns helfen. Wie wir uns fuehlen, wenn wir die angefertige Liste nicht erfuellen, doch was in uns vorgeht, wenn wir die Liste erfuellen koennen und vielleicht sogar etwas mehr schaffen.

Kurz: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Viel Spass und viele Gruesse,
JavaBohne

pro-cras
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Re: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by pro-cras » Sun 14. Oct 2018, 11:23

Lieber JavaBohne,
vielen Dank, dass du das Thema To-do-Liste aufs Tapet bringst, und sei es mit diesem Artikel, den ich so nicht unkommentiert lassen kann.

Offenbar scheint die Autorin für sich selbst zwei Dinge nicht auf die Reihe zu bringen: Die Notwendigkeit, bestimmte Dinge innerhalb der gegebenen Fristen (Prioritäten) zu erledigen, und die Freiheit, das Tagesgeschehen nach eigenem Gutdünken zu steuern. Freie Entscheidung in der Aufgabenwahl und Spaßfaktor mögen in ihrem Büro die Arbeitsatmosphäre bestimmen – in einer Rechtsanwaltskanzlei, einer Arztpraxis oder im Projektmanagement eines Bauträgers wird das alleine nicht ausreichen, um eine mehr als persönliche Arbeitszufriedenheit herzustellen.
Termine müssen erfasst, eingehalten und überwacht werden. Dazu braucht es (und gibt es) nützlichere Instrumente als ein wahlloses Sammelsurium von Notizzetteln, Notiz-Apps, Post-ist etc., und gut organisierte Büros haben ein zentrales Terminierungssystem, das nicht nur aus seiner Technik, sondern vor allem aus seiner konsequenten Einhaltung lebt.

Von jedem Einzelnen von uns sollte darüber nachgedacht werden, dass To-do-Lists keine Einkaufszettel sind, die einfach erinnern, was zu erledigen ist, und (indirekt und nicht immer wirkungsvoll ;) ) ausschließen, was nicht benötigt wird. Einfache Einkaufslisten lassen uns im Stich, wenn die für unsere Kochvorhaben speziellen Zutaten nicht anzutreffen sind. Intelligente To-do-Listen (und Einkaufslisten) beinhalten bereits Hinweise auf mögliche Fehlerquellen oder Hindernissen, eventuelle B-Pläne, wichtige Abwicklungsaspekte, Netzpartner, Bearbeitungsdauern etc. Solche To-Do-Listen sind intelligente Begleiter, die Stress mindern, Fehler minimieren, Effizienz erhöhen.

„Es ist ganz angenehm, Dinge nicht mehr „abzuarbeiten“. Dieser Satz der Autorin ist ebenso bezeichnend wie die Behauptung „Die Zufriedenheit wird oft geschmälert, weil immer wieder Neues hinzukommt“. Als ob „analog“ oder „digital“ die Kriterien dafür wären, ob eine Aufgabe als erledigt anzusehen ist. Den bereits zu „analogen“ Zeiten (???) nie endenden Fluss der Zeit und ihrer Befüllung zu ordnen ist und bleibt das lebenslange Anliegen des planenden Geistes – den hilfreichen weil erinnernden Zeigarnik-Effekt abstellen zu wollen, um nicht immer peinlich an das Unerledigte erinnert zu werden, scheint mir ein hilfloser und untauglicher Versuch der Selbstberuhigung. Wer sich vor dem Schlafengehen oder in der Meditationsübung von mahnenden Gedanken gestört fühlt, tut erfahrungsgemäß besser daran, diesen Gedanken ihre Existenzberechtigung anzuerkennen und sie durch kurzes Notieren und anschließendes inneres Beiseitelegen zu „stillen“.

Besonders bei Tätigkeiten, die uns nicht leicht von der Hand gehen – sei es weil sie zu große Zeiträume umspannen, weil sie uns unangenehm sind oder zu komplex - , ist es nach wie vor hilfreich, sich einen Plan zurecht zu legen. Die Arbeit eines Piloten wird mir als Passagier vertrauenswürdiger, wenn ich weiß, dass er gewissenhaft seine Check-Liste abarbeitet. Und wenn das Operationsteam zum Schluss die Liste der verwendeten Tupfer und Skalpelle nachzähle, ist mir das auch ein sehr sympathisches Must of To-dos.

Mir persönlich ist es, im Gegensatz zu der Behauptung der Autorin, noch nicht passiert, dass mir die Erstellung eines Projektplans (so nenne ich meine „To-do-Liste“) den Schein einer Produktivität vermittelt hätte. Für mich ist sie Teil meines Projekts, und zwar ein außerordentlicher wichtiger, zentraler Bestandteil, der seine Stützkraft dann beibehält, wenn ich ihn regelmäßig den Gegebenheiten anpasse.

Liebe Grüße
pro-cras

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JavaBohne
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Re: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by JavaBohne » Sun 14. Oct 2018, 22:25

Hallo pro-cras,

vielen Dank fuer deinen sehr ausfuehrlichen Beitrag. Deine Kritik an Frau Dr. Ilona Buergel in allen Ehren. Aber meine Fragestellung zu diesem Thread war "Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?". Das Wort Prokrastination oder der Bezug zur Prokrastination ist in deinem Kommentar voellig untergegangen. Moechtest du vielleicht ergaenzend deine Meinung zum Thema sagen? Waere wirklich interessant diese zu lesen.

Vielen Dank,
JavaBohne

pro-cras
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Re: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by pro-cras » Mon 15. Oct 2018, 11:18

Liebe JavaBohne,
liebe Foristen,

Ich hatte gehofft, meine Meinung zu To-do-Listen sei klar geworden, leider scheint mir das nicht gelungen zu sein. Lass es mich also noch einmal versuchen und auf den Aspekt der Prokrastination konzentrieren.

Wenn Prokrastination mit einem „aktiven Vergessen“ zu tun hat, können To-do-Listen ein Werkzeug der Arbeitsplanung sein, wenn zunächst auch nur ein sehr rudimentäres, solange es nur wie eine Einkaufsliste genutzt wird: Ohne können schon mal etwas zu vergessen und/oder stattdessen ganz anderes einkaufen/erledigen, als nötig gewesen wäre.

Damit To-do-Listen wirklich sinnvoll sind, sollten sie eine „qualifizierte“ Form bekommen, und zwar durch:
  • Hinweise auf mögliche Fehlerquellen oder Hindernisse,
    eventuelle B-Pläne oder Alternativen,
    wichtige Abwicklungsaspekte,
    Vernetzungspartner,
    Bearbeitungsdauern etc.
(Das wäre sogar für so manche Einkaufslisten sinnvoll, weil ja immer passieren kann, dass irgendetwas Wichtiges nicht verfügbar ist).wertvolle

To-do-Listen halten nicht unfehlbar davon ab, eine Sache aufzuschieben. Selbst ihre Erstellung kann ja aufgeschoben werden.
Sie sind aber Hilfen;
  • sich inhaltlich mit der Sache und ihrer Wichtigkeit auseinanderzusetzen,
    sich der Ziele und Absichten zu vergegenwärtigen,
    Erledigungen in Einzelabschnitte aufzuteilen,
    abzuwägen, ob alle Voraussetzungen für den jeweils notierten Punkt gegeben sind,
    die Erledigungen in einen zeitlichen oder sonstigen übergeordneten Rahmen zu stellen,
    nachzuspüren, ob irgendetwas dagegen spricht (und wenn, was und warum?),
    oder ob die Erledigungen mit irgendeinem anderen Punkt kollidieren,
    und ob einer dieser Punkte geeignet ist, das Vorhaben auf die Schiene „Nicht heute, vielleicht morgen“ umzuleiten.
Ich persönlich halte die Erstellung von „qualifizierten“ To-do-Listen daher für wichtig, weil wir gerne dem geschrieben Wort Glauben schenken - auch dem selbst geschriebenen -, und weil sie den ersten Schritt für ein inneres Committment darstellen kann.

Daher ist für mich die intelligente To-do-Liste keineswegs nur ein „Selbstzweck“ zur Vortäuschung von Produktivität, sondern ein konstruktives und kostengünstiges Tool zur Prokrastinationsbekämpfung, das Platz und Anstoß für weitere Anti-Prokrastinations-Maßnahmen gibt:
  • zur Selbstanalyse,
    Stärkung der Frustrationstoleranz,
    Überprüfung der Motivation,
    Überprüfung der Zielsetzung und der Akzeptanz der Auftraggeber etc.
To-do-Listen werden dadurch zu freundlichen Begleitern, dass sie gepflegt werden, und nicht als Belastung empfunden werden.
So gesehen machen To-do-Liste frei als Quasi-Auslagerung von Erinnerungsleistungen, und sie nehmen den Druck der Konfrontation mit ständig neuen Entscheidungsanforderungen.
Meine Erfahrungen.

Mit lieben Grüßen
pro-cras

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JavaBohne
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Re: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by JavaBohne » Tue 16. Oct 2018, 00:08

Hallo pro-cras,

vielen Dank fuer die nochmalige Darstellung.

To-Do-Listen haben fuer uns Prokrastinatoren sehr unterschiedliche Bedeutungen. Sie alle zusammenzufassen ist fast unmoeglich, da die Prokrastination eine Prokrastinatorin anders beeinflusst als eine andere. Stichwort/frage: Tritt die Prokrastination individuell auf?

Die Bedeutung von To-do-Listen fuer Prokrastinatoren kann unter anderem sein,

- sich durch eigene Arbeitsanweisungen selbst zu organisieren und optimieren
- seine Aufgaben streng in Teilaufgaben effizient und nachpruefbar zu gestalten
- die Abarbeitung und den Fortgang der Aufgaben visuell darzustellen und zu ueberpruefen
- die Leistung und den Erfolg jederzeit kontrollieren und bewerten zu koennen


To-Do-Listen sollten moeglichst den individuellen Anforderungen und Anspruechen eines Prokrastinators bzw. einer Prokrastinatorin angepasst sein, um den angestrebten Erfolg zu maximieren, den Misserfolg jedoch zu minimieren.

Sehr schoen werden solchen Listen von der Uni-Muenster erklaert:
https://www.uni-muenster.de/ZSB/lerntechniken.html

Die Punkte SMART-Ziele und Prioritaeten setzen (oberhalb des Themas To-Do-Listen) fliessen durchaus sinnvoll mit ins Thema ein.

Welche Bedeutungen To-Do-Listen ganz allgemein – ausserhalb der Prokrastination – haben koennen wird hier anschaulich erklaert:
https://de.wikipedia.org/wiki/To-do-Liste

Viel Spass beim Lesen,
JavaBohne

pro-cras
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Re: Welche Bedeutung haben To-Do-Listen fuer uns Prokrastinatoren?

Post by pro-cras » Tue 16. Oct 2018, 09:36

Hallo JavaBohne, Hallo Foristen,

die Frage, ob Prokrastination individuell auftritt ist, so gestellt, müßig, da wir alle auf unsere ganz eigene Weise daran gekommen sind. Auch zeigt die landläufige Unterteilung in z.B. pathologische bzw. chronische, emotionalbegründete , Aversions- und allgemeine Prokrastination, nicht zu vergessen die „akademische“ Prokrastination, dass Prokrastination natürlich individuell unterschiedlich erlebt wird – und dies nicht zuletzt, weil der „Prokrastinations“ sehr unterschiedliche Störungen unterlegt, die in diesem Begriff eingefasst werden.

Was die „akademische“ Prokrastination angeht, so habe ich den Eindruck, dass sie bei dir, lieber JavaBohne, in einem zentralen Fokus steht. Meine Praxiserfahrung zeigt aber, dass dieses "Studentensyndrom", das wohl eher ein Defizit im Zeitmanagement ist, in seiner Bedeutung überholt wird von solchen Prokrastinationsarten, die emotionalen Ursprungs sind. Diese Formen der Selbstsabotage werden allerdings weniger durch To-do-Listen überwunden als durch Auseinandersetzung mit der jeweiligen Emotion (Angst, Hass, Ekel…) und deren verhaltenstherapeutischer Überschreibung.

Für all diejenigen, die nicht den langen Atem für die großen akademischen Zeiträume suchen, sondern die eine Vielzahl kleiner Alltags-/Schreibtisch-Projekte nicht vor sich herschieben wollen, möchte ich hier noch den Tipp mit der „dinglichen“ To-do-„Liste“ anhängen:

Ich hatte im vorigen Post beschrieben, dass To-do-Listen sich erst dann von einfachen und nur bedingt tauglichen „Einkaufszetteln“ unterscheiden, wenn die einzelnen Erledigungspunkte durch konkrete „Anschluss- bzw. Begleitinformationen und -Aufträge“ ergänzt werden. Das kann allerdings, erst recht bei multiplen Aufgaben, sehr umfangreich und daher lästig bis unpraktikabel werden. Beispiel: Ein Umzug steht ins Haus, und die schiere Menge der Einzelerledigungen will zum Aufschieben verleiten - innerhalb des Projekts, und in seiner Konkurrenz zu den schon bestehenden Alltags-Projekten.

Der Gebrauch einer „dinglichen“ To-do-Liste

könnte darin bestehen, einen offenen Stand-Ordner mit eingehängten Taschen („Fächermappe“) zu benutzen, in den unter dem jeweiligen Stichwort-Reiter alle anfallende Ideen, Notizen, Telefonnummern, Prospekte etc. Platz finden, Die offen sichtbaren Reiterüberschriften erinnern mit jedem Blick darauf an die Gesamtheit der zu erledigenden Einzelpunkte, sodass sie nicht verloren gehen, die Tascheninhalte repräsentieren das, was erledigt oder noch zu tun ist. Eventuelle Handlungsanweisungen, Termin-, Organisations- oder Kontakthinweise werden beim Öffnen der Tasche sofort sichtbar.

Dadurch, dass dieser Ordner nicht im Regal verschwindet, sondern geöffnet und unübersehbar dort steht, wo der Blick immer wieder darauf fallen muss, die Einzelprojekte also ständig augenfällig sind, und der jeweiliger Erledigungsstand mit einem Griff in die Taschen vor Augen liegt, ist dies für mich als Einzelperson mit seinen prokrastinationsgefährdeten Alltagsprojekten das, was ich "dingliche" = anfassbare To-do-Liste nenne.
Sie ist intelligent und dynamisch, weil sie mit dem Entwicklungsstand mitwächst, und sie ist einfach zu handhaben, was für ein Arbeits-Tool ganz besonders wichtig ist.

Liebe Grüße
pro-cras

*) Ein Beispiel für die Ausstattung eines solchen Steh-Ordner könnte sein: (was lediglich als Symbolbild, nicht als Kaufempfehlung gemeint ist!)
"AmazonBasics Dokumentenmappe A4, Fächermappe", bei amazon anzusehen.

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