Ein Lieblingsbuch zum Thema

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pro-cras
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Ein Lieblingsbuch zum Thema

Post by pro-cras » Sat 1. Sep 2018, 10:09

Kein Ratgeber, viel mehr ein Spiegel, in dem ich mein typisch prokrastinierendes Verhalten so deutlich vorgeführt bekomme, dass ich mich regelrecht ertappt und deswegen angeregt fühle, endlich wieder aus dem Mittelpunkt meiner Aufschiebe-Befindlichkeit auszusteigen.
Und kein Buch, das heute auf der Bestsellerliste steht:

Der vor 99 Jahren geschriebene Gesellschaftsroman des Franzosen Marcel Proust „Im Schatten junger Mädchenblüte“, Teil des Großwerkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ befasst sich mit den Illusionen und Ernüchterungen, Träumen und Realitäten eines jungen Mannes, die unausweichlich auch in ein typischen Aufschiebeverhalten münden. Dies schildert er so, wie er alle seine Befindlichkeiten und Beschäftigungen beschreibt, nämlich als subjektive Selbstverständlichkeit, ohne den Hintergedanken irgendeiner Belehrung. Die erschließt sich dem Leser dann trotzdem aus den Parallelen, die er zu seinem eigenen Erleben ziehen kann, wenn er beginnt, sich beispielsweise auf die Seiten 220 ff zu begeben. (Ich beziehe mich hier auf die Suhrkamp Taschenbuchausgabe, Marcel Proust Im Schatten junger Mädchenblüte, Frankfurter Ausgabe, Hrsg. Luzius Keller, Werke II, Band 2).

„Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu machen, hätte ich vielleicht einen Versuch unternommen, gleich damit anzufangen…“ Unter dieser paradoxen Kondition beginnt er eine sehr stimmige Ausbreitung eines exemplarischen Aufschiebeverhaltens, das zum Schluss in die typische egoistische Fremdmanipulation mündet, mit der er die gutwillig nachfragende Großmutter zur Schuldigen an seinem Selbstbetrug macht: „… war ich böse auf sie, überzeugt, dass sie [die Ausübung des gefassten Entschlusses – der Verf.]... noch einmal und diesmal wahrscheinlich auf lange Zeit vertagt habe“. Tatsächlich werden ja bevorzugt die nächsten Angehörigen für die Fortsetzung eines süchtigen oder suchtverwandten Verhaltens, zu dem das Aufschieben werden kann, funktionalisiert.

Ein Roman aus der Belle Époque will kein Ratgeber für moderne Prokrastination sein. Folgerichtig beschreibt Proust auch nicht, ob der Ich-Erzähler wieder ins Tun gekommen ist, und wie er das gegebenenfalls bewerkstelligt hat. Aber auch so kann sich der Leser einen Rat ableiten: dass es sich bei der Prokrastination nämlich viel weniger um eine durch technische Tricks korrigierbare Verhaltensdegenerierung handelt, sondern um eine besondere Art und Weise, in der sich eine Persönlichkeit in ihrer momentan gültigen Lebens- und Erlebenswelt ausdrücken und bemerkbar machen will.

Lange bevor ein Mangel an Aufmerksamkeit oder ein Zuviel an medialer oder „smarter“ Ablenkung mit der Thematik der „Prokrastination“ in Verbindung gebracht wurde, haben Menschen bereits aufgeschoben. Aufschieben hat vermutlich Menschheitsgeschichte geschrieben, ob zum Guten oder zum Schlechten sei dahingestellt. Erst unsere so auf Effizienz (oder sollte ich sagen Ausbeutung) ausgerichtete Zeit benennt die Nicht-Planmäßigkeit als „Störung“ (der Abläufe und des Verhaltens) und rückt sie in die Nähe einer seelischen Erkrankung. Dabei könnten wir mit ein wenig Nachsicht und Geduld nicht nur auf eine - sich aus sich selbst heraus einleitende - Ausbalancierung dieses Verhalten zählen, sondern auch anerkennen, dass solche zögerliche Phasen ein systemisch wechselwirkender, also nicht isoliert zu sehender Teil der Lebensrealität der Betroffenen ist. Zum Aufschieben gehören immer zwei - meistens sogar mehr.

Erst wenn Prokrastination deutlich erkennbar nicht nur zu scheinbar ziellosen Umwegen, sondern zu einer tatsächlicher Gefährdung auf einem sich selbst zerstörenden Lebensweg wird, kann ein „Rat“, dann aber in Form von aktiver „Hilfe zur Selbsthilfe“, sinnvoll werden.

P.S. Nicht das o.g. Gesamtwerk schildert Formen und Wirkungen von Prokrastination. Seine Lektüre ist angesichts des Umfangs (über 4000 Seiten) und des gewöhnungsbedürftigen Stils wohl am ehesten dann zu empfehlen, wenn nicht wichtiges Anderes auf Erledigung wartet ;)

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