Piers Steel's Prokrastinationsformel

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pro-cras
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Piers Steel's Prokrastinationsformel

Post by pro-cras » Sun 16. Dec 2018, 18:02

Liebe Foristen,

In Großteilen der Veröffentlichungen zur Prokrastination bemühen sich die Autoren um eine möglichst breite und fundierte Darstellung der Formen, Ursachen und neurologischen Mechanismen der Prokrastination, in der Hoffnung, dass sich darin auch die Möglichkeiten der Überwindung bzw. der Behandlung zu erkennen geben. Genau das scheitert aber in der Regel bzw. ist allenfalls für eine bestimmtes und enggefasstes Erscheinungsbild des Aufschiebens hilfreich – zu vielschichtig ist das Störungsbild, als dass es einem einheitlichen Betrachtungs- und Behandlungsschema unterworfen werden könnte.

Wir finden das in sehr deutlicher Form in einem Buch des oft zitierten Prof. Piers Steel bestätigt, der sich dahin versteigt, eine Prokrastinations-Formel zu entwerfen, die er „the procrastination equation“ (die Prokrastinations-Gleichung) nennt und zum Buchtitel gemacht hat.

Prof. Piers Steel

Prof. Piers Steel lehrt Organisationslehre und Human Resources an der Haskayne School of Business, University of Calgary und hat einen besonderen Blick auf die Verhaltensökonomik, die als Teil der Wirtschaftswissenschaft sich mit dem (oft irrationalen) Verhalten des Menschen in wirtschaftlichen und allgemeinen Entscheidungssituationen des Menschen befasst.

Die Formel

Aus diesem wissenschaftlichen Fachgebiet heraus dient ihm eine Formel, die im Kern aus der Verhaltensökonomik stammt, und sich aus Komponenten wie „Erwartung“, „Wert“, „Verzögerung“ und „Impulsivität“ zusammensetzt. Mit dieser Formel reduziert er die Vielschichtigkeit der Prokrastination auf in begriffliches, quasi-mathematisches Minimum, das mir persönlich nicht weiterhilft, Unvollständigkeiten offen lässt und obendrein objektiv einige handwerkliche Schwächen enthält.

Kritik

Es beginnt damit, dass die sog. „equitation“ zunächst nur in Gestalt einer „Formel“ und damit als Term eingeführt wird, dem noch das Gleichheitszeichen und ein zweiter Term fehlt, um eine Gleichung zu sein. Später wird hierfür der Begriff „Motivation“ eingeführt, was zwar zu einer mathematischen Vollständigkeit führt, aber nicht zu einem Ergebnis, weil die Ingredienzien für eine Motivation bereits in den Begriffen Werte und Erwartung zu finden sind. Es sind als auf beiden Seiten der Gleichung die selben Begriffe untergebracht, die sich beim Umformen sogar noch auflösen würden.

Hinzu kommt, dass in dem Term "Erwartung" x "Werte" : "Impulsivität" x "Verzögerung" die Begriffe "Erwartung" und "Werte" nur in ihrer mehr oder weniger ausgeprägten positiven Form Sinn machen. Wir alle aber wissen, dass Erwartung nicht nur hoch oder gering sein können, sondern auch radikal negativ. Gleiches gilt für den Wert, den eine Sache für mich hat. Wäre die andere Seite der Gleichung tatsächlich „Motivation“, so hätte ich im Ergebnis eine „negative Motivation“, was erst einmal zu definieren wäre. Wären beide Begriffe negativ (was gar nicht so unwahrscheinlich sein kann), so würde diesem katastrophalen Umstand durch die mathematische Notwendigkeit „minus mal minus gleich plus“ nicht Rechnung getragen – er würde auch ins Gegenteil verkehrt. Daran ändert auch die hilfsweise Einführung einer positiven Konstante nichts.

Wir könnten uns auch noch kritisch mit den ungenauen und sich überschneidenden Begrifflichkeiten in der Verwendung von „Erwartung“, „Werte“ und „Impulsivität“ befassen, was allerdings den Rahmen dieser Besprechung sprengen würde. Ich will lediglich zum Ausdruck bringen, dass der Blick auf ein gegebenes Prokrastinieren einerseits vom allgemeinen Verständnis der Störungsbildes, andererseits aber auch von der sehr genauen und empathischen Wahrnehmung individuellen Geschehens geprägt sein muss, wenn man nicht nur dozieren, sondern kompetent helfen will.

Letzteres scheint in den Veröffentlichungen überall dort schwierig zu sein, wo das überschaubare Gebiet der mit Zeitmanagement assoziierten „akademisch/studentischen"“ Prokrastination verlassen wird. Allerdings bilden in der breiten Palette der Prokrastinations-Betroffenen in der freien therapeutischen Praxis die studentisch Prokrastinierenden den deutlich geringeren Anteil. Sie werden in der Hauptsache auch von Universitäts-Diensten betreut, was sicherlich auch der räumlichen und gewohnten Nähe, und auch der Kostenfrage geschuldet ist.
Die vielen anderen Ausformungen, z,B, der sog. chronischer Prokrastination, müssen sich im freien Beratungs-, Coaching- und Beratungsmarkt (und das meist auf eigenes Risiko und eigene Kosten) umsehen, wobei ich inzwischen die erfreuliche Erfahrung gemacht habe, dass zumindest eine Krankenversicherung auch für Prokrastinations-Symptome zur Kostenübernahme bereit ist.

Zusammenfassung

Insgesamt sehe ich das Buch des Prof. Steel als hilfreich im allgemeinen Verständnis der entwicklungsgeschichtlichen Herkunft und Bedeutung der Prokrastination. Es macht, besonders unter Verweis auf die „procrastination equation“, nur bedingt Hoffnung für den, der konkrete Hilfe sucht. Dass der Übersetzer für die deutsche Ausgabe den Titel „Der Zauderberg“ wählt, empfinde ich im übrigen eher als Zumutung, da der unterschwellige Bezug zu Thomas Manns „Zauberberg“ durch wirklich nichts zu rechtfertigen ist, außer, dass er für ein billiges Wortspiel Anlass herhalten muss.
Ungeachtet dessen möchte ich das Buch für die aktiv oder passiv von der Prokrastination Betroffenen empfehlen, weil es einen breiten und kompetenten Blick auf dieses vielschichtige Thema bietet. Jeder wie auch immer gearteten Behandlung sollte ein gründliches Wissen über die Kraniheit/Störung als solche vorausgehen, was mit diesem Buch durchaus geliefert wird.

Herzliche Grüße
pro-cras

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