Lieber JavaBohne,
Du kennst meine Meinung, dass Prokrastination keine Krankheit ist, allenfalls eine „Störung“, dies lediglich im Sinne eines Symptoms bzw. eines Syndroms, das Ausdruck einer erlernten Gewohnheit oder einer erworbenen oder ererbten psychischen Störung ist.
Leider ist es nicht immer leicht, auf Fragen zu komplexen Sachverhalten eine kurze und dennoch verständliche Antwort zu geben. Ich will es dennoch versuchen.
Erworbene Gewohnheiten sind gehirntechnisch durch Erfahrung ausgelöste Anpassungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im Zentralnervensystem. Diese können im Rahmen der Veränderbarkeit des Gehirns („Neuroplastizität“) auch wieder (z.B. durch Therapie oder neue Gewohnheit) einer "Extinktion" zugeführt werden. Das heißt:
Genetisch übertragene Verhaltensweisen sind immer veränderbar, wobei es nur eine nachrangige Rolle spielt, ob diese Veränderung aus eigener Initiative, aus der Übernahme neuer Gewohnheiten oder durch wie auch immer definierte „Therapie“ erfolgt.
Wenn Prokrastination Ausdruck einer (vererbten oder erworbenen/gelernten) Impulsivität ist (wie es in der genannten Studie vorausgesetzt wird), gibt es hierfür spezielle strukturelle Anordnungen im Zentralnervensystem, die im Zusammenspiel von Trigger, diversen Signalstoffen wie Neurotransmittern, Hormonen und Modulatoren sowie dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem zu den bekannten Aufmerksamkeitssprüngen, möglicherweise auch zu Angstreaktionen oder Stressreaktionen etc. führen.
In welcher Form eine genetisch in der DNA und ihren Eiweißmolekülen eingeschriebene, also vererbbare/vererbte Information sich äußert, wird "Gen-Expression" genannt. Diese kann, wie uns das Fachgebiet der
Epigenetik aufzeigt, durch Umwelteinflüsse, Verhaltensweisen und Lernvorgänge verändert werden.
Es gibt hierzu eine interessante Webseite
https://www.sein.de/epigenetik-die-gene ... schicksal/, auch schreibt beispielsweise Gerald Hüther in seinem Buch Biologie der Angst in sehr verständlicher Weise darüber.
Wenn Impulsivität das Hauptmerkmal einer bestimmten Prokrastination ist (bzw. wenn eine Aufmerksamkeitsstörung (AD(H)S) sich u.a. in wiederholtem Prokrastinieren äußert), wird sich konsequenterweise die Therapie der Wahl zunächst auf die Überwindung der Aufmerksamkeitsstörung konzentrieren.
Die dafür angebotenen Behandlungsmöglichkeiten reichen von der Verabreichung pharmazeutischer Produkte wie Methylphenidat oder Atomoxetin, Amphithamine oder sogar Anti-Depressiva über Homöopathische Wirkstoffkombinationen, Bach-Blüten, Schüßler-Salze etc. bis über psychotherapeutische Behandlung, Hypnose, bis hin zur Achtsamkeitsmeditation des Kabat-Zinn und andere, die mir im Moment nicht einfallen.
Was tatsächlich gewählt wird und obendrein noch nachhaltig wirkt, hängt von vielen individuellen Faktoren ab. Aus meiner beruflichen Erfahrung bin ich mit der Wirksamkeit diverser psychotherapeutischer Verfahren (der klassischen in Ergänzung der komplementären) zufrieden, die Klienten meistenteils auch.
Ein breiter, ergebnisoffener Blickwinkel ist mir dabei umso wichtiger, als ein Prokrastinations-Geschehen nur in Ausnahmefällen sich einzig auf eine einzige Ursache (in diesem Fall die Impulsivität) reduzieren lässt. Oft haben sich im Laufe einer längerdauernden Prokrastination noch dysfunktionale Formen des Zeitmanagements und der Arbeitsorganisation und diverse emotionale Störfelder oder andere Erweiterungen hinzugesellt, die möglicherweise erst im Laufe einer psychotherapeutischen Behandlung zutage treten und versorgt werden können.
Herzliche Grüße
pro-cras