Vererbbare Prokrastination

Beschreibung und Diskussion persönlicher Erfahrungsberichte
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JavaBohne
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Vererbbare Prokrastination

Post by JavaBohne » Mon 17. Dec 2018, 03:47

Hallo Foristen,

In den letzten Jahren haben Meldungen in Fachzeitschriften bei den Psychologen und Therapeuten fuer Furore gesorgt, als es hiess, dass die Prokrastination durchaus auch vererbbar ist. Etwas, was vor wenigen Jahren noch stark angezweifelt wurde.

Hierzu ein Link von vielen, der diese Informationen bereitstellt:
https://journals.sagepub.com/doi/abs/10 ... 7614526260

Meine Gedankengaenge hierzu sind:
  • Kann man eine Stoerung/Krankheit erfolgreich therapieren, die vererbt wurde und somit genetisch bedingt ist?
  • Welche Therapie wuerde hier die erfolgsversprechendste sein?
Es waere schoen einige Meinungen von euch dazu lesen zu koennen.

Vielen Dank,
JavaBohne

pro-cras
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by pro-cras » Mon 17. Dec 2018, 14:14

Lieber JavaBohne,
Du kennst meine Meinung, dass Prokrastination keine Krankheit ist, allenfalls eine „Störung“, dies lediglich im Sinne eines Symptoms bzw. eines Syndroms, das Ausdruck einer erlernten Gewohnheit oder einer erworbenen oder ererbten psychischen Störung ist.

Leider ist es nicht immer leicht, auf Fragen zu komplexen Sachverhalten eine kurze und dennoch verständliche Antwort zu geben. Ich will es dennoch versuchen.

Erworbene Gewohnheiten sind gehirntechnisch durch Erfahrung ausgelöste Anpassungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im Zentralnervensystem. Diese können im Rahmen der Veränderbarkeit des Gehirns („Neuroplastizität“) auch wieder (z.B. durch Therapie oder neue Gewohnheit) einer "Extinktion" zugeführt werden. Das heißt:

Genetisch übertragene Verhaltensweisen sind immer veränderbar, wobei es nur eine nachrangige Rolle spielt, ob diese Veränderung aus eigener Initiative, aus der Übernahme neuer Gewohnheiten oder durch wie auch immer definierte „Therapie“ erfolgt.

Wenn Prokrastination Ausdruck einer (vererbten oder erworbenen/gelernten) Impulsivität ist (wie es in der genannten Studie vorausgesetzt wird), gibt es hierfür spezielle strukturelle Anordnungen im Zentralnervensystem, die im Zusammenspiel von Trigger, diversen Signalstoffen wie Neurotransmittern, Hormonen und Modulatoren sowie dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem zu den bekannten Aufmerksamkeitssprüngen, möglicherweise auch zu Angstreaktionen oder Stressreaktionen etc. führen.

In welcher Form eine genetisch in der DNA und ihren Eiweißmolekülen eingeschriebene, also vererbbare/vererbte Information sich äußert, wird "Gen-Expression" genannt. Diese kann, wie uns das Fachgebiet der Epigenetik aufzeigt, durch Umwelteinflüsse, Verhaltensweisen und Lernvorgänge verändert werden.

Es gibt hierzu eine interessante Webseite https://www.sein.de/epigenetik-die-gene ... schicksal/, auch schreibt beispielsweise Gerald Hüther in seinem Buch Biologie der Angst in sehr verständlicher Weise darüber.

Wenn Impulsivität das Hauptmerkmal einer bestimmten Prokrastination ist (bzw. wenn eine Aufmerksamkeitsstörung (AD(H)S) sich u.a. in wiederholtem Prokrastinieren äußert), wird sich konsequenterweise die Therapie der Wahl zunächst auf die Überwindung der Aufmerksamkeitsstörung konzentrieren.

Die dafür angebotenen Behandlungsmöglichkeiten reichen von der Verabreichung pharmazeutischer Produkte wie Methylphenidat oder Atomoxetin, Amphithamine oder sogar Anti-Depressiva über Homöopathische Wirkstoffkombinationen, Bach-Blüten, Schüßler-Salze etc. bis über psychotherapeutische Behandlung, Hypnose, bis hin zur Achtsamkeitsmeditation des Kabat-Zinn und andere, die mir im Moment nicht einfallen.

Was tatsächlich gewählt wird und obendrein noch nachhaltig wirkt, hängt von vielen individuellen Faktoren ab. Aus meiner beruflichen Erfahrung bin ich mit der Wirksamkeit diverser psychotherapeutischer Verfahren (der klassischen in Ergänzung der komplementären) zufrieden, die Klienten meistenteils auch.

Ein breiter, ergebnisoffener Blickwinkel ist mir dabei umso wichtiger, als ein Prokrastinations-Geschehen nur in Ausnahmefällen sich einzig auf eine einzige Ursache (in diesem Fall die Impulsivität) reduzieren lässt. Oft haben sich im Laufe einer längerdauernden Prokrastination noch dysfunktionale Formen des Zeitmanagements und der Arbeitsorganisation und diverse emotionale Störfelder oder andere Erweiterungen hinzugesellt, die möglicherweise erst im Laufe einer psychotherapeutischen Behandlung zutage treten und versorgt werden können.

Herzliche Grüße
pro-cras

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JavaBohne
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by JavaBohne » Sat 22. Dec 2018, 17:56

Hallo pro-cras,

selbst fuehrende Wissenschaftler wissen nicht, wie die Prokrastination einzuordnen ist. Darueber gibt es viele zum Teil voellig unterschiedliche Theorien.

Ich peroenlich denke anders als du. Meiner persoenlichen Meinung nach, ist die so genannte studentische Prokrastination sicherlich nur eine "Marotte", also schlechte Angewohnheit durch Antrainieren von Einigen bis hin zu einer Stoerung, zum Teil starke Stoerung bei Anderen. Inwiefern und genau wo diese Stoerung einzuordnen ist, ueberlasse ich den Experten.

Das als pathologische/chronische Prokrastination bezeichnete Leiden, halte ich persoenlich eher fuer eine erheblich Stoerung bis chronische Krankheit. Dabei berufe ich mich auf die bereits viel zitierte Fachliteratur von Prof. Steel, Prof. Ferrari und ebenso Prof. Koenig. Sie untereinander haben sehr aehnliche, aber dennoch zum Teil unterschiedliche Ansichten, auf deren Forschungsergebnisse in den naechten Jahren ich mich wirklich sehr freue. Ausschlaggebend scheint hierbei sicherlich die Entstehung der individuellen Prokrastination zu sein.

Viele Gruesse,
JavaBohne

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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by pro-cras » Sat 5. Jan 2019, 14:41

Lieber JavaBohne,

für den unter Prokrastination Leidenden ist die Diskussion um den Begriff „Krankheit“ die um des "Kaisers Bart", denn in den offiziellen Klassifikationen ICD10 und DSM-V wird Prokrastination nicht gelistet. Einer der Gründe dafür mag die diagnostische Unsicherheit sein, die dem Wunsch nach biologisch punktgenauer Diagnose im Wege steht. Ob die allerdings heute noch – hinsichtlich psychischer Störungen – wirklich erwartet werden kann, darf man ruhig kritisch hinterfragen. Sollte tatsächlich die auf der körperlichen Seite durchaus bestehende Möglichkeit, Erkrankungen mittels neuronaler und biologischer Marker dingfest zu machen, denn nicht auch auf seelische Krankheitsbilder übertragbar sein? Sind die bildgebenden Verfahren bei der Beobachtung des Gehirns denn nicht gerade der Schritt in diese Richtung?

Eine solche Denkweise und Erwartung stammt noch aus der Mitte des 19. Jhds., wo siw von Wilhelm Griesinger in seinem Buch "Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten" im Jahr 1845 so formuliert wurde: dass „wir vor allem bei psychischen Krankheiten jedes Mal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen“ haben, was durch anatomische (heute würden wir vielleicht sagen: bildgebende) Studien zu erkennen sei. Dieses ausschließlich neurobiologische Paradigma hat sich, wie wir heute wissen, als Sackgasse erwiesen.

Dem Verständnis und der Überwindung von Prokrastination kommen wir nicht durch medizinische oder neurobiologische Studien näher. Wo das versucht wird, verlängern wir einfach nur das Leiden der Betroffenen.

Den weiterführenden Blickwinkel weist uns z.B. der promovierte Kognitionswissenschaftler und assoziierte Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Gröningen (NL), Stephan Schleim, der sich dem wechselseitigen Einfluss von Hirnforschung und Gesellschaft widmet – eine Sichtweise, die unserer praktischen Erfahrung entgegenkommt: dass Prokrastination in der Regel in sie umgebenden Kontexten geschieht. Der Mensch agiert (und schiebt auf) immer und untrennbar unter physikalischen, molekularen, genetischen, pharmakologischen, psychologischen, ökonomischen und sozialen Einflüssen.

Psychisch-mentale Vorgänge sind komplexe, tiefe Phänomene, die sich nicht (allein) auf neurobiologische Vorgänge reduzieren lassen. Das Leiden des chronischen Prokrastinierers ist real und nicht das Ergebnis einer naturwissenschaftlichen Messung. Seinem Hilfsbedürfnis wird nicht durch Diagnose und klassifizierter/kodifizierte Behandlung Rechnung getragen, sondern durch das Bewusstmachen des Prokrastinations-generierenden und -fördernden Lebenskontextes und durch das Anwenden von "Methoden", die nicht mit dem Anspruch daherkommen, die "Krankheit" zu "heilen", sondern geeignet sind, Bedingungen zu schaffen, in denen für den/die Betroffene Veränderungen ermöglicht und in Gang gesetzt werden können.

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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by JavaBohne » Sun 6. Jan 2019, 17:09

Hallo pro-cras,

ich finde deine Meinung ein ganz klein wenig zu hoch gegriffen. Sicherlich zeigt Wikipedia - ein Hort, aus dem du viele Informationen abfragst und hier postest - genau die Informationen auf, die du hier ebenso vertrittst - wie: offiziellen Klassifikationen ICD10 und DSM-V . Aber fuer uns Leidende spielt es keine Rolle, welche offiziellen Klassifikationen die Medizin vertritt. Wir sehen viele Dinge anders, zum Teil voellig anders. Und wenn du mal so nett bist und siehst dir die vielen Hundert Kommentare von enttaeuschten Prakrastinierer/innen an, die den Therapeuten reihenweise davonliefen und immer wieder behaupteten "Der/die hat mich nicht verstanden", oder "Die wissen gar nicht worum es geht", dann sollten dir diese Kommentare mehr Wert sein als eine offizielle Klassifizierung bei Wikipedia oder sonstwo. Nur Menschen, die wirklich an Prokrastination leiden, koennen dem nachempfinden; andere nicht!

Wenn fuehrende Wissenschaftler sich voellig uneinig sind, ob oder ob nicht die Prokrastination eine Krankheit, oder ein Persoenlichkeitsstoerung, oder, oder, oder darstellt, sollten wir (alle Leidenden) uns als mehr oder weniger Laien auf diese Wissenschaftler verlassen, abwarten und studieren, mit welchen Resultaten sie in der nahen Zukunft in die Oeffentlichkeit gehen. Dass mittlerweile die Prokrastination voellig anders und zwar wesentlich intensiver und oeffentlicher erforscht wird als noch vor Jahren, duerfte fuer die Leidenden, aber auch fuer die Heilenden von grossem Vorteil sein.

Meine Denkweise, die du hier kritisierst, stammt keineswegs aus dem 19. Jahrhundert, sondern ist brandaktuell, wie ich in vielen Links zu den fuehrenden Wissenschaftlern immer wieder bewiesen habe. Und das laesst sich hier im Forum wunderbar beweisen.

In diesem Sinne

Viele Gruesse,
JavaBohne

pro-cras
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by pro-cras » Mon 7. Jan 2019, 12:27

Lieber JavaBohne,
Offenbar ist es mir nicht gelungen, mit meinem Anliegen zu dir durchzudringen. Lass es mich also noch einmal erklären:
1. Als Therapeut habe ich in der Korrespondenz mit den Leistungsabteilungen der Krankenkassen immer wieder und derzeit verstärkt mit den Fragen der Klassifizierbarkeit von Prokrastinationsstörungen und deren Abrechenbarkeit zu tun. In Deutschland wird dafür vorrangig das ICD-10 herangezogen (Nicht das WIKIPEDIA).
2. In meinem Post habe ich die Sinnhaftigkeit dieser Klassifikationshörigkeit in Frage gestellt, und dies umso dringlicher, als der Wunsch nach „Beweisbarkeit“ und Klassifizierbarkeit der Prokrastination durch Aufnahme in das ICD-10 sich vermutlich auch in der Neuauflage ICD-11 nicht erfüllen wird.
3. Die Behandlung einer Krankheit, die nicht klassifizierbar und damit nicht eindeutig diagnostizierbar ist, wird nicht gelehrt, nicht kodifiziert und nicht von den gesetzlichen KV übernommen.
4. Mitte des 19.Jhds. wurde (nicht zuletzt in der Euphorie des Beginnenden wissenschaftlichen und industriellen Zeitalters) gefordert, dass nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Vorgänge strukturell nachweisbar sein müssten. Worauf sich alsbald die Regale der Charité mit Gehirnpräparaten füllten, die heute allenfalls einen musealen, aber keinen wirklichen Entwicklungsfortschritt darstellen.
5. Brandaktuell ist keineswegs der Gedanke, psychischen Störungen gehirntechnisch auf die Schliche zu kommen und sie dort zu behandeln. Dass die Prokrastination ins Blickfeld der Studien-Industrie geraten ist, kann nicht verwundern. Sie folgt damit dem Weg anderer Störungen, die etwas mit der Unvereinbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse mit der individuellen Gemütslage zu tun haben (z.B. die Freud’sche „Hysterie“, das hyperkinetische Syndrom etc.)
6. Heute deutet sich ein neues Verständnis der psychischen Störungen, zu denen die Prokrastination zuzuordnen sind, an: Dass diese nämlich zuerst vor dem Hintergrund des subjektiven Leidens und der zu beobachtenden Funktionsstörungen im Alltag der Betroffenen zu sehen ist. Störungen wie die Prokrastination, aber auch Spielsucht, pathologisches Horten, iele Formen der Konzentrationsstörung, Computersucht oder Medianabhängigkeit, sind (noch) nicht als Krankheitsbilder anerkannt und abrechenbar, werden als Störung jedoch wahrgenommen und sind keineswegs unheilbar, auch wenn es dazu keine einheitlichen Behandlungsmanuale gibt. Hier gilt immer noch die Erfahrung und die fachliche und menschliche Intuition als wesentlicher Heilungsauslöser beim Betroffenen.
7. Wenn Prokrastination etwas mit misslungener Lebensplanung, mit Orientierungslosigkeit, mit unerkannten körperlichen Erkrankungen, mit Allergien und Unverträglichkeiten, mit widersprüchlichen Überzeugungen, mit Lebensgeschichte, mit untauglicher Betriebs- und Personalführung, mit Fehlinformation oder Fehlmotivation zu tun hat, dann ist hier weniger der Forscher aufgerufen als der kundige Therapeut.
8. Wir müssen anerkennen, dass es für Prokrastination kein einheitliches Behandlungsmanual gibt. Und dass das Ergebnis einer (psycho-)therapeutischen Behandlung immer und untrennbar verbunden ist mit der Qualität des zufälligen Zusammentreffens von zwei Menschen. Und dass Heilung nicht das Ergebnis der Behandlung ist, sondern dass Behandlung allenfalls Heilung im Betroffenen in Gang setzen und möglich machen kann. Und dass dies in erster Linie aus der Wirkkraft der „therapeutischen Beziehung“ entsteht.
9. Indem du forderst:
„Wenn fuehrende Wissenschaftler sich voellig uneinig sind, ob oder ob nicht die Prokrastination eine Krankheit, oder ein Persoenlichkeitsstoerung, oder, oder, oder darstellt, sollten wir (alle Leidenden) uns als mehr oder weniger Laien auf diese Wissenschaftler verlassen, abwarten und studieren, mit welchen Resultaten sie in der nahen Zukunft in die Oeffentlichkeit gehen.“
leistest du mit einer solchen aufschiebenden Haltung und dem Rat, abzuwarten, der Prokrastination genau bei denen Vorschub, die sich das Abwarten nicht mehr leisten können. Verstehe das wer will.
10. Ich bin seit geraumer Zeit in fachlichen Austausch mit führenden Vertretern der ges. KV, der Wohlfahrtsverbände und der Wirtschaftsverbände im Gespräch, um Prokrastination in ihrem gesamten, nicht nur medizinisch definierten, sondern auch gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhang ins Bewusstsein zu bringen. Die medizinische Forschung mag in sich zerstritten sein, Ansatzpunkte für die Überwindung von Prokrastination werden von ihr (als Reparaturanstalt)zunächst erwartet, sondern vorrangig von denen, die am Entstehen der Prokrastination beteiligt sind: Von Organisationsplanern, Eltern und Erziehenden, Professoren, Führungskräften…

Herzliche Grüße
pro-cras

The_desperate_one
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by The_desperate_one » Tue 8. Jan 2019, 13:43

Lieber JavaBohne, lieber pro-cras,

Frohes Neues Jahr 2019! :-)

Ich kann in dieser Diskussion beide Seiten verstehen: Ich vermute wie JavaBohne, dass es auch unheilbare vererbte psychische Krankheiten gibt: Die Forschung ergibt nach heutigem Stand eine starke erbliche Komponente bei z.B. Schizophrenie, ADHS und schwerer Depression (z.B. Häufung in Familien bei fehlenden sonst erfassbaren Unterschieden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung). Als plakatives Beispiel bei Menschen mit stark vermindertem IQ und dadurch eingeschränkter Lebensfähigkeit bezweifle ich, dass man das überhaupt wegtherapieren kann. Bei psychischen Störungen kann man die Symptome vielleicht (und zwar im Mittel aller Patienten) therapeutisch abmildern. Dennoch hat die Forschung zweifelsfrei bewiesen, dass selbst starke Therapierung und sogar Medikamentierung nicht in jedem Einzelfall wirksam ist - und zwar bei keiner einzigen psychischen Störung. Und bei vielen Störungen tritt in methodisch guten Studien bei mehr Personen als uns lieb sein kann keine Verbesserung oder sogar eine Verschlechterung der Symptome unter Therapie auf, während umgekehrt nicht sonderlich selten Patienten auch ohne Therapie eine teils nachhaltige Besserung ihrer Symptome zeigen (wobei externe Therapie im Mittel positiv wirkt, aber nicht in einer einzigen Reviewstudie als überragend wirksam befunden wird (so wirksam wie z.B. Antibiotika-Therapien bei diversen bakteriellen Krankheiten) - diese mäßige Wirksamkeit gilt übrigens ebenso für psychische Medikamente wie Antidepressiva).
Mehrmals stieß ich unter Therapeuten auf die Behauptung, dass fehlende Symptomlinderung unter Therapie an fehlender Mitarbeit der betreffenden Patienten liege. Vielleicht sind diese aber psychisch gar nicht fähig zu "produktiver" Mitarbeit - ich sehe diese in meinen Augen Ausrede mancher Therapeuten (leider mehr als einmal gehört) ungemein skeptisch. Wahrscheinlich für die Psyche der Therapeuten eine heilsame Weltsicht, aber mE nicht weise - vor allem wenn ich als Patient das mithöre und damit mehr oder weniger subtil unter Druck gesetzt werde, schlimmstenfalls/zugespitzt: "Geht es Dir unter meiner Therapie nicht besser, wirst Du selbst schuld sein bzw. kriegst auch von mir die Schuld aufgeladen."

Aber ich kann auch pro-cras Seite verstehen: Gerade als Prokrastinierender kann man sich gerne hinter solchen Befunden verstecken - natürlich ist eine bestimmte Sichtweise (es lässt sich etwas ändern, ich kann etwas ändern!) für die Heilung positiv. Die Frage ist nur, wie man Realismus / Wahrheit und Heilung / Hoffnung, die ja auch berechtigt sein kann miteinander in Einklang bringt. Wie gesagt, Therapie (auch Selbsttherapie, sogar Nichttherapie, d.h. unbewusste psychische Entwicklung) kann mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit wirksam sein, kann aber auch scheitern oder schaden. Auch die Frage, inwieweit ein Patient schuld ist, wenn er keine Hoffnung mehr hat (bzw. daran, dass er keine Hoffnung hat), finde ich schwierig zu beantworten. Vielleicht ist eine Heilung ohne jede Hoffnung unmöglich, vielleicht hilft aber auch ein Medikament, das die Hoffnungs-Hirnchemie entsprechend stimuliert.

Um diesen Punkt noch einmal herauszustellen: Ich würde darauf wetten, dass es Menschen gibt, deren Prokrastination unheilbar ist*. Ich will nur nicht glauben, dass ich einer von diesen Menschen bin*.

Viele Grüße,
Jan

*Kleiner Exkurs: Die Professorin, die in meiner Antidepressionsklinik speziell für die Patienten einen Vortrag über die wissenschaftlichen Aspekte von Depression hielt, meinte, dass Depressive in Tests über überprüfbare Fakten (z.B. Wie hoch ist das Durchschnitts-Einkommen in Deutschland?) viele Fragen in einem Durchschnitt über viele Befragte näher an der realen Datenlage beantworten. Nicht-depressive Befragte würden dabei allerdings systematisch zu optimistisch im Vergleich zur wahren Datenlage antworten. Gesund zu sein geht also bei den meisten Personen damit einher, die Wirklichkeit ein Stück weit rosiger einzuschätzen als sie ist. (Es gab allerdings Fragen, die von Depressiven und Gesunden gleichermaßen zu pessimistisch eingeschätzt wurden)

pro-cras
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by pro-cras » Tue 8. Jan 2019, 20:05

Lieber Jan,

in deiner nach beiden Seiten ausgleichenden und jeweils stimmigen Sichtweise wird vor allem eines deutlich: Bezüglich JavaBohnes Position geht es um generell um psychische Störungen: Schizophrenie, schwere Depression, ADHS, Intelligenzminderung, und deren Therapierbarkeit. Irgendwie drängt sich im Rückschluss für mich der Gedanke auf, dass Prokrastination unausgesprochen in die Gruppe dieser schweren psychischen Erkrankungen eingereiht werden soll. Da habe ich aber so meine Bedenken!

Ich weiß (aus jahrelanger schmerzlicher eigener Erfahrung und aus den vielfältigen Klienten-/Patientenberichten), dass das subjektive Erleben von Prokrastination im Extremfall mit hohem persönlichem Leidensdruck verbunden sein kann – wobei man allerdings auch sehen muss, dass dieser Leidensdruck i.a.R. nicht aus der Störung unmittelbar herrührt, sondern aus den mit der Prokrastination einhergehenden Störungsfolgen! Dies ist keineswegs Haarspalterei, sondern mit einer der Gründe dafür, warum Prokrastination es nicht zum eigenständigen Krankheits-/Störungsbild gebracht hat.

Die pro-cras-Seite bemüht sich weniger um ein medizin- oder gehirntheoretisches Modell, das sich mit dem mehr oder weniger gelingenden Zusammenspiel von Strukturen befasst, sondern hat zielgerichtet und lösungsorientiert immer den individuellen Weg zur Überwindung eines ganz persönlichen Störungsbildes im Visier. Dabei hilft ein offener differenzialdiagnostischer Blick sowie ein nachvollziehbares und bewährtes Behandlungskonzept, aber auch die Verantwortlichkeit, im Falle einer schweren psychischen Störung (die entschieden hat, sich mittels einer Prokrastination auszudrückenden) auf eine grundlegende Behandlung beim psychotherapeutischen oder psychiatrischen Facharzt hinzuwirken. Denn in diesem Falle wäre das „Symptom „Prokrastination“ tatsächlich „unheilbar“ (ich würde lieber sagen „rezidiv“ = immer wiederkehrend), so lange sie jedenfalls von der Grunderkrankung immer wieder dazu aufgerufen wird. Und nur unter dieser Voraussetzungen, lieber Jan, würde ich auf deine Wette eingehen wollen!
Mit ebenfalls besten Neujahrsgrüßen

pro-cras

The_desperate_one
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by The_desperate_one » Wed 9. Jan 2019, 11:16

Hallo pro-cras,

ja, Deine Differenzierung klingt für mich stimmig - ich denke Du hast da Recht mit der Einbettung in andere Leiden (z.B. Depression) im Fall der starken Remanenz der Prokrastination. Und ich kann mir schon vorstellen, dass Prokrastination in vielen Fällen besser heilbar ist als andere psychische Leiden - auch wenn ich es nicht weiß, Du aber weißt das wahrscheinlich aus Erfahrung.

Auch interessant finde ich, dass die Prokrastination selbst keinen Leidensdruck erzeugen würde - wobei ich bei diesem Detail skeptisch bin, aber ich möchte ausdrücklich betonen dass ich Deine Beiträge sehr schätze, meine Skepsis gehört zu meinem Charakter und ist nicht offensiv, sondern für mich persönlich wahrheitssuchend gemeint. Ich vermute ein Alkoholiker, Spielsüchtiger oder sonst Süchtiger ist typischerweise im gleichen Maß "nur" durch die Folgen seiner Sucht unter Leidensdruck - den Konsum an sich finden die meisten Süchtigen ja toll, nur die meist eher langfristig unangenehmen Folgen halt nicht.

Danke für Deine Grüße :-)
Viele Grüße,
Jan

pro-cras
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Re: Vererbbare Prokrastination

Post by pro-cras » Wed 9. Jan 2019, 22:54

Hallo!

Ich vermutete schon, dass die Behauptung, Prokrastination habe kein eigenes Leidpotenzial eine ziemlich steile These sein würde. Deswegen steht sie da auch: Um (günstigstenfalls belegbaren) Widerspruch zu provozieren. Meine These stützt sich sehr stabil auf konkrete Praxiserfahrung, was aber keine Allgemeingültigkeit bedeutet. Ich möchte gerne mit dieser klaren Feststellung dazu anregen, dass Betroffene sich das mit der Prokrastination erlebte „Leiden“ sehr genau, sozusagen unter der Lupe anschauen und für sich Klarheit gewinnen, wo der Schmerz ist: Denn da beginnt auch der Weg zur „Heilung“ - der nicht bei ausschließlich bei der Prokrastination anfängt, aber bei ihrer Überwindung endet.

Konkretes Beispiel aus kürzlichen Therapiesitzungen:
„Ich schiebe auf, weil ich das allein nicht erledigen kann. Ich kann das Problem aber nicht mit meinem Kollegen besprechen, weil ich mich schäme“. Wo steckt das Leiden?
Oder:
„Ich muss das aufschieben, weil mir alles zu viel wird. Ich kann aber nichts an meinen Kollegen delegieren, weil der so ein ganz anderer, impertinenter und dominanter Typ ist.“ Auch hier: wo ist das Leiden? In beiden Fällen sicher nicht in der Prokrastination.
Oder so:
„Wenn ich genau nachdenke, erinnert mich dieser Druck in der Brust an ein Erlebnis mit meiner ersten Freundin … Ich hab es gewagt, und sie hat mich zurückgewiesen“. Eine leidvolle Erfahrung, die eine Prokrastination befördert, durchaus möglich, aber Prokrastinationsleid?
Anderes Beispiel:
„Ich habe vor lauter Kopf-in-den-Sand-Stecken den entscheidenden Gerichtstermin nicht wahrgenommen und alles verloren“. Das folgende emotionsreiche Klagen, ist es Ausdruck eines unmittelbaren Prokrastinationsleidens, oder nicht vielmehr leidvoller Umgang mit einer nicht bewältigten neuen Lebenssituation, also Anpassungsstörung nach ICD-10 F43?

Mir geht es weniger um Haarspalterei und Definitionsgerangel, sondern um die Anregung, die (Begleit-)Umstände einer akut erlebten Prokrastination kritisch und aufmerksam zu erforschen und aus dem Nebel des „Keine Ahnung“, „Weiß nicht“, „Ist halt alles Scheiße“ herauszuheben. Um mehr zu erreichen als ein überzeugendes Argumentieren, dass leider "erstmal nichts zu machen" ist. Im Nebel schippert man leicht an den Lösungen vorbei.

Herzliche Grüße
pro-cras

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